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Heldinnengeschichte aus dem Weltraum

Als kürzlich die amerikanische Weltraumkapsel „SpaceX“ im Meer landete, hatte ich erstmals eine Vorstellung davon, welche Phasen der Landung die Raumfahrer seit der Abkoppelung von der ISS hinter sich hatten. Und das verdanke ich Samantha Cristoforettis Buch „Die lange Reise. Tagebuch einer Astronautin“. Darin schildert sie eindrücklich ihren Weg vom Kindheitstraum, Astronautin zu werden, bis hin zu dessen Umsetzung im Jahr 2014/2015. Das macht sie allgemeinverständlich und gleichzeitig mit einer Akribie, die wohl nur von einem enormen Fachwissen in Kombination mit einer immensen Leidenschaft für ihr Sujet herrühren kann.

Cristoforetti setzte sich gegen über 8.000 Konkurent*innen durch
Und davon brauchte Cristoforetti, deren Ausbildung einer Art „Langstreckenlauf“ gleicht, besonders viel. Die wichtigsten Stationen dürften das Ingenieursstudium in Deutschland, Praktika in Russland, der Eintritt in die italienische Luftwaffe und eine Ausbildung zur Kampfpilotin dort sowie das ESA-Auswahlverfahren als Astronautin gewesen sein. Bei letzterem setzte sie sich gegen über 8.000 Mitbewerber*innen durch.

Nur indirekt Kritik an struktureller Diskriminierung
Inwiefern sie es auf diesem Weg als Frau schwerer hatte als ihre männlichen Kollegen, diese Frage umschifft Cristoforetti diplomatisch und lässt höchstens verlauten, Frauen werde Mittelmäßigkeit seltener verziehen als Männern. Auch dass sie etwa die Kampfpilotinnen-Ausbildung nur durch eine Gesetzesänderung in Kombination mit einer Ausnahmeregelung absolvieren konnte, wertet sie im Nachhinein als Vorteil für sich selbst. Auf subjektiver Ebene ist dies ja durchaus eine konstruktive Eigenschaft, Umwege aufgrund von Benachteiligungen im Nachhinein positive Aspekte abzugewinnen. Kritik an struktureller Diskriminierung kommt so aber höchstens indirekt zum Ausdruck.

Null-Summen-Spiel
Vielleicht ist Cristoforetti diesbezüglich so vorsichtig, weil sie gerne noch einmal ganz nach oben, also in den Weltraum, möchte. Auch an anderer Stelle scheint es, dass sie kritische Aussagen vermeidet: Wahrscheinlich, so mutmaßt sie, hätten die Nachteile, die sie als Frau in der Raumfahrt erfahren habe, die Vorteile genau ausgeglichen. Ein Null-Summen-Spiel.

Neue Heldinnen und Role-Models
Und trotzdem wünscht man dem Buch viele (junge) Leser*innen. Wahrscheinlich werden die wenigsten von ihnen tatsächlich Astronautinnen, genauso wenig, wie die wenigsten ihrer Leser tatsächlich Astronauten werden. Die Tradition der „Heldengeschichten“ jedoch ist eine lange, die der „Heldinnen“ eine noch sehr kurze. Hier also eine faktenreiche „Heldinnengeschichte“ aus der Raumfahrt. Role-Modells vermitteln ja immer auch eine Vorstellung davon, was möglich ist.

Intelligente und warmherzige Erzählerin
Mich selbst hatte die Raumfahrt bis dahin offen gestanden nie sonderlich interessiert. Es bedürfte einer Samantha Cristoforetti, die in einer Talkshow höchst interessant, intelligent und gleichzeitig unglaublich warmherzig von ihrer Mission berichtete – eine seltene Mischung!

Kopfüber wie eine Fledermaus an der Decke essen
Am besten gefiel mir übrigens die Stelle im Buch, an der sie erzählt, wie sie im Weltraum am liebsten an der Decke kopfüber, vergleichbar mit einer Fledermaus, ihr Essen zu sich nahm. Einfach, weil es dort möglich war. An solchen Stellen lugt Cristoforettis Humor hervor. Sie hat ihn sich trotz aller Anstrengungen und Arbeit erhalten.

Von Christine Müller (www.cmuellerberlin.de)